Dies ist ein Kommentar zu dem Beitrag Sexualität im Rollenspiel von Arne Babenhauserheide.
In einer Pen & Paper Rollenspielrunde vor etwa zwei Jahren musste u.a. mein männlicher Charakter Neminis eine geschlossene Gesellschaft bestehend aus einflussreichen männlichen Oligarchen infiltrieren, die ihr Geschäft u.a. mit Sklavenhandel betrieben. Hierfür gab sich Neminis selbst als ein Menschenhändler aus, der Weisenkinder aus Krisengebieten aufspürt, sie als Meuchelmörder ausbildet und ihre Dienste, aber auch die ausgebildeten „Produkte“ zum Verkauf stellt. Anders ausgedrückt musste mein Charakter selbst einen profitbesessenen Menschen spielen, der auf die Grundrechte eines empfindungsfähigen Wesens mit Füßen tritt. So kam es, dass Neminis das Angebot eines Sklavenhändlers, der Frauen kauft und ihnen absoluten Gehorsam eintrichtert, ihm für die Nacht eine Liebessklavin zur Verfügung zu stellen, nicht ablehnen konnte. Im Quartier angekommen, war es sehr schwierig, einem tatsächlichen sexuellen Akt auszuweichen, ohne die eigene Tarnung aufzudecken. Seit dieser Runde begleitet die Liebessklavin Kerani Neminis, da sie sich als Besitz von Neminis sieht. Neben dem Versuch Kerani von ihrer Freiheit zu überzeugen und sie abzuschütteln, begleitet sie nun seit jeher Neminis, während dieser versucht ihr ihre Unabhängigkeit begreiflich zu machen. Zwei Jahre später schlitterte Neminis wieder in eine –diesmal eher ausweglose– Situation. Betrunken torkelte er zu seinem Quartier, wurde von Kerani in Empfang genommen und– wachte am nächsten Morgen entspannt, frisch geduscht und ohne jegliche Erinnerung an den vorherigen Abend auf.
Zwar wurde die entsprechende Szene nicht beschrieben, jedoch wurde über den Verlauf des Abends mittels eines Würfelwurfs entschieden, welcher so schlecht verlief, dass jedem Spieler am Tisch klar sein musste, was ingame passiert war.
Als Spielerin saß ich da, dachte an all die Versuche, Kerani verständlich zu machen, dass sie mehr als nur ein Besitz, mehr als eine Sex-/Liebessklavin sein kann, an die vielen Versuche, einen Charakter zu spielen ohne die eigenen Moralvorstellungen und eigenen Prinzipien allzu sehr miteinfließen zu lassen und dass ich es in vielen Momenten nicht geschafft hatte, Neminis Persönlichkeit und meine eigenen Moralvorstellungen voneinander zu trennen.
Denn anders als Gewalt ist Sexualität tief im eigenen Selbstbild verankert, und sie zu behandeln verwischt die Grenzen zwischen Spielenden und Charakteren –
Ich stimme Arnes Argumentation zu, dass wir wenige Vorbilder zur „Sexualität als etwas normales“ haben, jedoch muss ich gestehen, dass die Intensität und das Erreichen emotionaler Grenzen in diesen Rollenspielrunden andere, wenn auch weiterhin mit Sexualität verbundene Gründe hatte.
Eine Liebessklavin, die sich als Besitz des Charakters sieht-
Eine Liebessklavin, über die der Charakter Macht besitzt-
Eine Liebessklavin, über deren körperlichen und geistigen Zustand und deren Schicksal der Charakter die Gewalt hat-
Der Grund für die erlebte Spielintensität lag u.a. darin, dass die im Spiel beschriebene Sexualität um die Attribute Gewalt und Macht erweitert wurde.
Dabei müssen nicht zwangsläufig am eigenen Leib widerfahrene sexuelle Gewalterfahrungen notwendig sein, um das Konzept Macht <-> Sexualität <-> Gewalt in dieser Intensität zu erleben.
Meine Interpretation folgt der Argumentation, dass Sexualität, Gewalt und Macht auch im Alltagsleben, d.h. auch im Umgang mit dem eigenen Sex-/Lebenspartner ohne bewusste/gewollte Gewaltintention Hand in Hand gehen können. Dies ist zwar eine für viele verstörende, vielleicht jedoch durchaus berichtigte Interpretation von sexuellen Handlungen. Eine solche Situation kann folgendermaßen aussehen:
Zwei sich gegenseitig attraktiv findende Personen befinden sich in einer romantisch-erotischen Situation und es kommt im Verlauf des Geschehens zu einer sexuellen Handlung. Die zugrunde liegende Motivation kann darin bestehen, dem jeweils anderen Lust/Vergnügen/Befriedigung bereiten und/oder die eigenen Bedürfnisse erfüllen zu wollen. Dies impliziert, dass die Emotionen und Handlungen des anderen zu Gunsten des eigenen Antriebs, egal wie selbstlos dieser erscheinen mag, beeinflussen zu müssen. Dies kann durch sich gegenseitig
anheizen
wollen passieren: die Personen verhalten sich entsprechend und agieren nach einem Muster, um die gewünschte Reaktion bei dem anderen auszulösen. Und in dieser Verhaltensweise zeigt sich das Machtspiel. Um die gewünschte Reaktion zu erzielen und das zugrunde liegende Bedürfnis zu erfüllen, wird gewollt/ungewollt bzw. bewusst/unbewusst versucht, Macht über die andere Person auszuüben.
So gesehen, war Sex schon immer mehr als reine Leidenschaft- Sex ist Macht. Macht, die ein Einzelner auf andere ausübt oder von höheren Instanzen wie Staaten instrumentalisiert wird (siehe Ein-Kind-Politik in China, Regulierung der Prostitution, Verbote und Strafen bei sexuellen Praktiken wie Exhibitionismus oder Wahl des Sexpartners im Falle von Homosexualität). So rückt das Thema Sexualität in den Fokus der Öffentlichkeit, wodurch sich infolgedessen gesellschaftliche Normen und moralische Regeln zum Thema menschlicher Sexualität entwickeln. Im Verlauf unserer sexuellen Entwicklung formen diese von der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft geprägten/vorgepredigten Bilder unser Verhaltensmuster und formen unsere Vorstellung von einer sexuellen „Normalität“ (wobei es diese eigentlich nicht geben kann: denn wie kann eine normale Sexualität existieren, wo sie doch von Individuum zu Individuum, von Kultur zur Kultur und abhängig vom Wandel der Zeit anders gesehen und praktiziert wird?).
Es zeigt sich, dass Sexualität weder privat noch frei und dass Sex ein Machtspiel ist.
Es ist jedoch eine Sache, dieses Konzept theoretisch zu thematisieren, eine andere aber, einzugestehen dass die tatsächlich erlebte Sexualität mehr ist als unsere Vorstellung von Sex als Vergnügung.
Das Einbringen der Liebessklavin Kerani in die Rollenspielrunde konfrontiert uns mit diesen Gedanken, da sie durch ihre Konditionierung zu Gehorsam und ihrem „Beruf“ als Liebessklavin der Inbegriff der unfreien Sexualität und die Personifizierung der „negativen“ Seiten der Sexualität ist. Die Präsenz von Kerani bereitet uns Unbehagen, denn sie ist das Spiegelbild unserer Ängste in Bezug zur Sexualität. Sie erinnert uns daran, dass Sexualität ein Machtspiel ist, dass ein Einzelner (in diesem Falle mein Charakter Neminis bzw. ich), die Gesellschaft (die Spieler in der Rollenspielgruppe, wenn sie Vorschläge zum Umgang mit Kerani einbringen) aber auch höhere Instanzen (Organisationen wie die Herrenrunde) Macht über die Sexualität eines Individuums haben und sein Sexualverständnis maßgeblich beeinflussen und definieren.
Kerani erinnert uns aber auch an die „negativen“ Aspekte der Sexualität: Sie zeigt uns, dass Sex nicht immer mit (eigenem) Vergnügen zusammen hängt. Hier kommen persönliche Ängste und eigene Erfahrungen ins Spiel: Wie oft fragen wir uns, ob auch der Sexpartner Spaß am sexuellen Akt hat? Vielleicht erinnern wir uns auch an die Male, wo der Akt uns selber keinen Spaß bereitet hat bzw. daran, dass der sexuelle Akt einem sogar Schmerzen bereitet und man trotzdem weitergemacht hat? Und auch hier erinnert uns Kerani an unsere Ängste, nämlich dass das sexuelle Vergnügen nur gespielt/vorgetäuscht sein kann, denn als Liebessklavin muss Kerani zu jeder Zeit unabhängig von ihrem eigenen Lustempfinden in der Lage sein, ihre „Kunden“ zufrieden zu stellen, d.h. mitunter eigene Lust vortäuschen.
In einer Rollenspielrunde Sexualität zu thematisieren kann bedeuten, dass man sich auf ein vielleicht bis dahin für Spieler und Spielleiter unerforschtes Territorium wagt, auf dem nicht nur die von der Gesellschaft vorgepredigten sexuellen Vorbilder anzutreffen sind, sondern auch Tretminen, die einem offenbaren können, dass Sexualität mit Macht, Gewalt, Unterdrückung und Unwahrheiten verflochten ist.
Ich denke, dass der Grund, weshalb es uns in einer Rollenspielrunde schwer fällt, mit solchen Situationen, in denen Sexualität thematisiert wird, umzugehen, darin liegt, dass wir vordergründig wenig Stoff bzw. Vorbilder bezüglich der oben genannten „harten“ Probleme besitzen und mit diesen Problemen meist (für lange Zeit) allein gelassen werden. Die Begegnung mit einer solch ungeschminkten Form der Sexualität kann einem Trauma gleich kommen, denn der Spieler muss sich bewusst/unbewusst entscheiden, ob er diese Wechselwirkung von Macht <-> Sexualität <-> Gewalt sich selbst gegenüber eingestehen möchte und sich damit von dem romantisch-erotischen Bild der eigenen sexuellen Beziehung verabschieden will, was vorhandene oder künftige sexuelle Beziehungen verkomplizieren und schwerer ertragbar machen kann. Oder die Begegnung kommt einer schmerzenden Wunde gleich, weil sie womöglich eigene Erfahrungen und Ängste wieder real werden lässt- und dass vor anderen Spielern, wo die meisten von uns doch nicht gelernt haben, über solche Probleme offen zu reden.
Das hat zur Folge, dass wir -konfrontiert mit diesen Themen- mit Unwohlsein und mit Überspielen der Situation reagieren. Zudem kann unsere Reaktion auf solche Themen in einer Rollenspielrunde ziemlich viel über unser Verhalten, unsere Wünsche, Ängste und Probleme in Bezug zum Thema Sexualität verraten. Zumindest habe ich in unseren Rollenspielrunden das Gefühl gehabt, einiges über die Spieler und dem Spielleiter in Erfahrung gebracht zu haben, ohne dass es ihnen zunächst bewusst war oder sie es gar beabsichtigt hatten. Ich glaube, auch ich habe einiges unbeabsichtigt Preis gegeben. Und dies wirft die Frage auf, ob und was wir über unseren Umgang mit Sexualität anderen gegenüber verraten möchten.
Zum Abschluss möchte ich anmerken, dass die Reaktionen der Spieler natürlich auch von anderen Faktoren beeinflusst werden. In einer Diskussion mit Knox wurde z.B. der Einfluss von sozialer Verantwortung auf die Reaktionen der Spieler in Bezug zur Sexualität angesprochen. In Arnes Kommentar wird davon gesprochen, dass bei der Ausübung von Gewalt, deren Auswirkungen über das Schicksal der spielenden Charaktere hinausreicht, eine Sondersituation eintritt:
Wieder anders ist das bei der „wir kämpfen um soziale Macht auszuüben“-Gewalt. Die ist meiner Erfahrung nach im Vergleich zum Kämpfen um zu töten wieder ein schwieriges Thema.
Wir erleben, dass Spieler auf Handlungen vorsichtiger reagieren, durch die sich Konsequenzen auf andere unbeteiligte Personen wie z.B. ganze Gesellschaften ergeben . In dem Beispiel aus diesem Zitat geht mit Macht soziale Verantwortung einher. Wenn Charaktere bzw. Spieler über das Schicksal weiterer Personen, die nicht in ihr Verantwortungsgebiet fallen, entscheiden müssen, können sich wieder eigene Moralvorstellungen und eigene Prinzipien dazwischen schalten und unsere Entscheidungen ingame beeinflussen. In diesem Kontext wäre unser Unbehagen bezüglich des Themas Sexualität bzw. der Person Kerani so zu erklären, dass durch Keranis fehlenden eigenen Willen und ihre vollständige Unterwerfung unter den Willen des Spielers, ein Spieler in die Rolle des Machthabers gedrängt wird und die Zustimmung zu einer sexuellen Handlung mit Kerani einem potentiellen Macht- bzw. Verantwortungsmissbrauch gleichkommt.
Dadurch hätte das Unbehagen, welches bei in Rollenspielen beschriebenen sexuellen Situationen auftritt, die gleichen Ursachen wie das Unbehagen, welches verspürt wird, wenn ingame das Gefühl von sozialer Verantwortung übernehmen zu müssen auf andere Weise getriggert wird wie z.B. bei der im obigen Zitat erwähnten
„wir kämpfen um soziale Macht auszuüben“-Gewalt.
Wir sehen, dass das Unbehagen bei Konfrontationen mit dem Thema Sexualität in Rollenspielen (aber evtl. auch in der Realität) vielschichtige Gründe haben kann. Hier spielen persönliche Erfahrungen eine wichtige Rolle. Da ich persönlich seit der Oberstufe viel zum Thema Emanzipation, Feminismus und Sexualität gelesen habe, sehe ich das Unbehagen beim Thema menschlicher Sexualität vordergründig in der Wechselwirkung zwischen Macht <-> Sexualität <-> Gewalt.
Beitragsbild: Pen & Paper Rollenspiel von Carsten Tolkmit. Lizenz: Attribution-ShareAlike 2.0 Generic (CC BY-SA 2.0); unverändert; Die Originaldatei ist hier zu finden.
Ein ganz schön schwerer Text – auch jetzt nach einigen Stunden glaube ich, dass ich ihn noch nicht ganz durchdrungen habe.
Beim Lesen hatte ich wieder die Sorge, ob die Runde doch zu heftig war – zu gnadenlos mit der Konfrontation. Ich wusste, dass die erste Runde ein sehr persönliches Erleben sein konnte, und als Neminis betrunken zurückkam bin ich selbst erschrocken, was sich daraus entwickelte – was ich daraus entstehen ließ – hatte aber das Gefühl, dass es noch im Rahmen war. Ich hoffe, ich habe es richtig eingeschätzt – will heißen: Ich hoffe, du hattest auch in den heftigeren Situationen Spaß und kannst als positive (Selbst-) Erlebnisse darauf zurückblicken.
Die Runden haben mir insgesamt alle Spaß gemacht, auch wenn ich ebenfalls schockiert war über das Geschehene nach Neminis Sauftour. Interessanter bzw. schockierender wäre es gewesen, wenn bei der letzten Rollenspielrunde Keezal bei dem “Tanz” nicht eingegriffen hätte und Kerani den Akt vor den Augen aller Anwesenden der Herrenrunde vollzogen hätte (interessant, dass du auch hier die Szene nicht ansatzweise beschreiben wolltest ;D). Ich denke, der “Schock” beim Spiel kommt meist erst danach, nämlich wenn darüber reflektiert wird, wie gehandelt wurde. Was mir eher Unbehagen bereitet, ist die Frage, was ich Preis gegeben habe, was ich über anderen erfahren habe und wie ich damit umgehen soll. Es kommt mir vor, als ob ich versuchen müsste, beim Spiel (und in der Realität?) meine Prinzipien/MoralvorstellungenÄngste/Wünsche etc. hinter einer imaginären Wand verstecken zu müssen, damit ja auch nicht viel in meinem gespielten Charakter mit einfließt oder andere die (ganze) Wahrheit über mich erkennen. Auch habe ich das Gefühl, etwas von den anderen Anwesenden gesehen zu haben, das nicht freiwillig preisgegeben wurde, so als ob ich wie ein Voyeur ihre Privatsphäre schwerst verletzt hätte. Das ist derzeit der Gedanke, der mich eher beschäftigt.
Zumindest was das Preisgeben angeht, war es bei mir freiwillig: Ich weiß, dass in Rollenspielrunden mehr sichtbar wird, als das was ich direkt zeige. Deswegen ist es mir so wichtig, dass Runden, die Sexualität thematisieren, ein geschützter Raum sind: Wir sind unter Freunden und ich kann darauf vertrauen, dass das, was ich wage zu zeigen akzeptiert wird.
Normalerweise würde ich denken, dass es mir keine Probleme machen würde, den Tanz zu beschreiben, aber es gab zwei Hemmnisse: Erstens bin ich es nicht gewohnt, Sexualität offen zu beschreiben (das fiel mir früher mal leichter, ist über die letzten Jahre aber schwerer geworden – obwohl die Szene in meinem Kopf bildlich existierte) und zweitens befürchte ich, damit Leuten etwas aufzudrängen, von dem sie zurückschrecken – im Endeffekt meine Machtposition als SL auszunutzen und damit Leute in etwas zu zwingen, das sie nicht erfahren wollen.